MDR Exakt: 110 - und niemand kommt

Exakt - das Nachrichtenmagazin
Auf dieser Toilette im Busbahnhof Rudolstadt wurde Detlef Seiferth ausgeraubt. Er schildert eine brutale Tat.

Detlef Seiferth:
"Ich habe meinen Enkel abgeholt, der kam aus Königssee und musste mal auf Toilette. Ich habe meinen Rucksack abgestellt und musste mal dringend für kleine Männer. Hier habe
ich den Rucksack hin und bin rechts rum. Dann ging das Licht aus vorne und dann wurde ich zusammengetreten. Also einmal hier in die Waden und einmal auf den Oberschenkel."

Die Täter haben ihn zu Boden getreten und sind dann mit der Beute geflüchtet, sagt er. Doch was danach kommt, klingt absurd.

Detlef Seiferth:
"Hier bin ich raus und habe gleich die Polizei angerufen, die 110. Und dann wurde mir gesagt, dass ein Streifenwagen vorbeikommt, ich soll warten. Da kam aber kein Streifenwagen. Nach fünf Minuten kriege ich einen Anruf über das Handy: Die Bundespolizei steht auf dem Bahnhof. Da bin ich da raufgerannt zum Bahnhof, rechts, da war aber weit und breit keiner zu sehen."

Denn eine Bundespolizei gibt es hier gar nicht. Das heißt: Niemand kam, um Detlef Seiferth beizustehen. Nach dem Überfall musste er drei Stunden bei minus 13 Grad warten - und fuhr schließlich mit dem letzten Bus nach Hause. Die Polizei ließ sich trotz Notruf nicht blicken.

Detlef Seiferth:
"Ich habe gedacht: Das ist ein Witz, was sie machen. Da kam auch kein Anruf mehr von der Inspektion drinne, ob die mich gefunden haben, nichts. Da hat sich keiner mehr drum
gekümmert. Das war der absolute Höhepunkt."

Hilflos trotz Notruf. Ein bedauerlicher Einzelfall? Unsere Recherchen zeigen: mitnichten. Wir treffen den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei in Thüringen, Marko Grosa. Wir sind in einem Hotel verabredet, denn in seiner Polizeidienststelle dürfen wir nicht drehen - keine Genehmigung vom Dienstherren. Er kennt den Fall aus Rudolstadt - und hat dazu brisante Informationen.

Marko Grosa, Gewerkschaft der Polizei Thüringen:
"Unserer Kenntnis nach, ist da auch tatsächlich nur ein Funkwagen im Einsatz gewesen. Allerdings konnten wir noch nicht herausfinden, wo der gerade gebunden war, sodass es nicht möglich war, den Bürger dort zu bedienen."

Ein schwerwiegender Verdacht: Konnte niemand zu Hilfe eilen, weil nicht mehr genug Personal in der Nähe ist? Wir fragen offiziell bei der Landespolizeidirektion nach. Hier streitet man das ab - und gibt dem Beamten am Notruf die Schuld. Er habe leider versäumt, den genauen Tatort zu erfragen. Und sei davon ausgegangen, die Bundespolizei sei zuständig.

Marko Grosa wundert sich nicht über solch eine Situation. Er ist selbst Leiter der Polizeiinspektion im Eichsfeld - und damit Verwalter eines dramatischen Personalnotstands
in einem großen Flächenlandkreis.

Marko Grosa, Leiter Polizeiinspektion Eichsfeld:
"Und hier haben wir an den Standorten Leinefelde, Worbis und Heiligenstadt Polizeigebäude. In der Vergangenheit war das die Station, die Außenstelle von Heiligenstadt und hier waren alleine drei Funkwagen im Einsatz. Zwei weitere Funkwagen in Leinefelde und in Heiligenstadt noch einmal vier Besatzungen. Jetzt haben wir in der Regel einen Funkwagen in Heiligenstadt und einen in Worbis."

In einem fast 1.000 Quadratkilometer großen Landkreis. Eine halbe Stunde Anfahrtszeit nach einem Notruf ist da schon Luxus. Marko Grosa, Leiter Polizeiinspektion Eichsfeld:

"Von der hessischen Landesgrenze bis hoch in den Nordhäuser Bereich hinein würde man selbst mit Sondersignal eine knappe Stunde unterwegs sein."

Frage: "Und das ist realistisch, dass ein Wagen auch mal diese Strecke fahren muss?"
"Das kommt vor."

Eine Situation, die auch für die Polizei selbst hochgefährlich ist, nicht nur hier im Eichsfeld. Wir treffen eine Polizistin, sie möchte unerkannt bleiben. Sie und ihr Kollege wurden bei einem Einsatz von mehreren Tätern angegriffen. Seitdem weiß sie - auf schnelle Verstärkung kann sie nicht zählen.

Polizistin: "Es heißt dann erstmal: Verstärkung gibt es keine. Das ist ein Ohnmachtsgefühl, wir haben Angst. Wenn wir irgendwo hinkommen, wissen wir: Es ist kein anderer Wagen da, der uns helfen könnte. Wenn es irgendwie eskaliert, können wir nur abhauen. Obwohl wir doch die Polizei sind. Und alle Notrufe können wir sowieso nicht mehr bedienen. Manchmal
sagen wir den Opfern: Machen sie Fotos und schicken sie sie uns zu."

Besser wird es auch in Zukunft ganz sicher nicht, im Gegenteil. Noch mehr Stellen sollen gestrichen werden. Bis 2020 fallen in Thüringen mehr als 900 weitere Beamte weg. Ein Problem auch im benachbarten Sachsen. Im November hatten wir über Monique und Ronny berichtet, die von Rechtsextremen in Hoyerswerda angegriffen wurden. Doch die gerufenen zwei Beamten waren völlig machtlos - und bis genug Verstärkung kam, dauerte es geschlagene zwei Stunden.

Thomas Knaup, Sprecher Polizeidirektion Oberlausitz-Niederschlesien:"Aufgrund der sehr langen Anfahrtswege, wir haben im besten Fall von Kamenz nach Hoyerswerda etwa 30 Kilometer, von Bautzen nach Hoyerswerda sind es an die 50 bis 60 Kilometer, je nachdem, wo der Funkstreifenwagen sich gerade befindet. Und aus dem Zittauer Raum an die 90 Kilometer Anfahrtsweg, also in etwa eineinhalb Stunden ist die Polizei dort gegen 23 Uhr im Vollbesitz, Vollbestand der Kräfte handlungsfähig gewesen."

Am Ende wurde den Opfern empfohlen, die Stadt zu verlassen. Die Polizei sah sich nicht in der Lage, ihre Sicherheit zu gewährleisten. Wie groß das Personalproblem auf den Revieren tatsächlich ist, lässt sich durch eine Anfrage im sächsischen Landtag erahnen. An zwei Stichtagen ist hier erstmalig erhoben worden, wie lange die Polizei braucht, um am Tatort zu sein - auch wenn Eile geboten wäre. Drei Beispiele:

Körperverletzung: 33 Minuten
Bedrohung: 31 Minuten
Und als nach einem Täter gefahndet werden sollte, dauert es gar geschlagene zwei Stunden,
bis zum Einsatz.


Wir zeigen unsere Recherchen dem früheren sächsischen Justizminister Geert Mackenroth. Er ist jetzt Vorsitzender der Opferhilfe Weißer Ring. Der CDU-Mann wünscht sich verbindliche Vorgaben für Reaktionszeiten der Polizei - so wie sie bei Feuerwehr und Rettungsdienst üblich sind. Die müssen binnen zwölf Minuten am Einsatzort sein.

Geert Mackenroth, Weißer Ring Sachsen (CDU):
"Wir haben solche festgeschriebenen Interventionszeiten bei der Polizei nicht. Obwohl ich mir natürlich eine politische oder ähnliche Zielvorgabe auch für die polizeilichen Interventionszeiten wünschen würde. Einfach deshalb, damit die Bürgerinnen und Bürger wissen: Wir können uns auf die Polizei im richtigen Notfall auch wirklich verlassen."

Doch die Landesregierungen gehen auf diese Forderungen bisher nicht ein. Denn bei solchen
Zeitvorgaben müsste wohl wieder mehr Personal auf die Straße.


Quelle: Heiner Hoffmann: 110 - und niemand kommt. In: MDR Exakt vom 09.01.2013. http://www.mdr.de/exakt/hundertzehn102.html (Stand: 11.01.2013)